«Auf der anderen Seite der Schanze beginnt jene Landschaft, welche einst die weisse Leinwand für die modernen Erschliessungsoperationen abgegeben hat. Soweit es nicht die paar kärglichen ‹rues corridores› betrifft, ist es der ‹gescheiterte Raum›, der hier beginnt und erst an der Schanze der nächsten Stadt endet. [...] Der Rückzug der klassischen urbanistischen Argumente aus diesem Territorium hinterlässt ein Vakuum an Verständnis, das seit zehn Jahren mit einem schillernden Begriff eher verdeckt als aufgefüllt wird: ‹die Peripherie›.» (1)
Viele der Bauten und Projekte von Galli Rudolf Architekten liegen in sogenannt peripheren Lagen. 1988, als Marcel Meili fragte, ob die städtische «Peripherie» mehr sein könne als der «gescheiterte Raum» ausserhalb der Stadtmauern, waren Yvonne Rudolf und Andreas Galli gerade dabei, ihr Architekturstudium an der ETH Zürich abzuschliessen. Als sie 10 Jahre später ihr gemeinsames Büro gründeten, geschah dies in einer Zeit, in der die Stadtränder in den Fokus der Schweizer Siedlungsentwicklung rückten.
Dieser Aufsatz diskutiert im ersten Teil die Begriffe der Peripherie, der städtischen Ränder und der Agglomerationen und im zweiten Teil vier realisierte Projekte von Galli Rudolf Architekten für Wohnsiedlungen. Das Wort «Randbedingungen» darf hier wörtlich genommen werden: Die Fragen von Linie, Grenze, Horizont, von innen und aussen sind zentrale Themen der Entwürfe. Die vier besprochenen Bauten fassen Raum nicht nur ein, sie fächern vielmehr durch eine bewusst ambivalente Setzung der Linien ein Beziehungsnetz von Räumen auf.
PERIPHERIE ALS LINIE
Die Frage nach dem Raum der Peripherie beinhaltet ein Paradox: «Peripherie» bedeutet etymologisch «Linie» oder «Rand». In der Mathematik ist die Peripherie die Umfangslinie, in der Geografie bezeichnet sie ein Randgebiet. 2 Peripherie beschreibt Orte bezüglich eines mehr oder weniger weit entfernten Zentrums, nicht einen eigenen Raum. Was peripher ist, liegt ausserhalb der Kernzone, auf der Grenze und am Horizont. Was aber geschieht, wenn die Peripherie zum Ort des Handelns, Bauens, Wohnens und Arbeitens werden soll?
«Die Koexistenz, wie sie heute durch die Präsenz von Provisorien und ‹ungelösten Orten› in der Stadt vorgeführt wird, sie könnte die Thematik des Entwurfes selbst werden. Es ist der Entwurf, der nicht mehr ‹Probleme löst ›, Stellen klärt, sondern die Mehrdeutigkeit der Brüche gegen den Terror der Bilder verteidigt, welcher die gereinigten Bezirke beherrscht, seien es nun die pathetischen Szenarien der Ingenieure oder die Bühnenbilder von Natur und Geschichte.» (3)
Wie in Marcel Meilis «Brief aus Zürich» Ende der 1980er Jahre beschrieben, zogen sich Brüche durch den städtebaulichen Bestand innerhalb und ausserhalb der Kernstädte, die thematisiert werden mussten. Die Wahrnehmungen waren längst nicht mehr eindeutig. Der Siedlungsdruck und die immer unschärfer werdenden Grenzen zwischen Stadt und Land forderten nach angemessenen Instrumenten, um die ins Blickfeld gerückte Peripherie als Handlungsraum zu erfassen.
Der Begriff der Peripherie wird in der Städtebautheorie seit der Antike und bis heute verwendet. Gerade aber die im Wort enthaltene Grenzziehung verhindert, dass damit Beziehungen angemessen reflektiert werden könnten. Dies mag einer der Gründe sein, weshalb im Vokabular der Städte- und Raumplaner neue Wörter den Begriff weitgehend ersetzt haben. Alternativen für eine Beschreibung der Zonen ausserhalb der Kernstädte stellten Thomas Sieverts 1997 mit der «Zwischenstadt» und Franz Oswald 2003 mit der «Netzstadt», in der «Stadt und Land verschmelzen», auf. (4) Zur gleichen Zeit führte eine Avenir Suisse-Studie von Angelus Eisinger und Michael Schneider «Stadt land Schweiz» und «Stadtlandschaft» ein. (5) Am Institut Stadt der Gegenwart am ETH Studio Basel fasst spätestens seit einer grossen Studie von 2006 der Begriff «Peri-Urbanität» die charakteristischen Entwicklungsräume der Schweiz. (6) In der Raumtypologie des Schweizerischen Bundesamts für Raumentwicklung heissen die aktuellen Kategorien «Städte und Agglomerationen», «periurbaner ländlicher Raum» und «peripherer ländlicher Raum». Die Peripherie ist hier sogar weit von den Städten abgerückt. Sie liegt nicht mehr zwischen Stadt und Land, sondern bezeichnet die äusserste Zone des ländlichen Gebiets. (7)
Der Peripherie-Begriff hat sich in den letzten Jahrzehnten nicht nur gewandelt, er hat sich auch aus dem raumplanerischen in einen gesellschaftlichen Kontext verschoben. «Peripherie ist überall» betitelte Walter Prigge eine Sammlung von Texten, darunter Regina Bittners Aufsatz «Raum ohne Eigenschaften», in dem sie die Auflösung der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie als gesamtgesellschaftliche Umstrukturierung beschreibt. 8 Ist die Peripherie ein Ort ohne Eigenschaften, ohne Rückhalt, ohne Zugehörigkeit und ohne Orientierung, analog zur Hauptfigur aus Robert Musils ab 1930 veröffentlichtem Romanzyklus Der Mann ohne Eigenschaften? Verlangt der Alltag in der Peripherie andere Instrumente der Beobachtung als Rationalismus und Determinismus? (9) Als Folge der veränderten stadt- und landschaftsräumlichen Strukturen sind «Zentrum» und «Peripherie» heute keine geografischen Kategorien mehr, sondern vielmehr «Metaphern für soziale Verhältnisse». (10) Es ist eine Konsequenz dieser städtebaulichen und planerischen Diskurse, dass zunehmend von «Agglomeration» gesprochen wird. Diese Wahrnehmung der Orte ist nicht mehr geprägt von ihrer Lage inner- oder ausserhalb einer Grenze, sondern von der Gleichzeitigkeit und Überlagerung unterschiedlicher Qualitäten. (11)
Einer der möglichen Gründe allerdings, weshalb der Begriff der Peripherie nicht aus dem Vokabular der Architekten und Städteplaner verschwunden ist, liegt in der Spannung zwischen dem Zentrum und dem Ausserhalb: einer Grundbedingung der Konzeption von Raum, die es erst möglich macht, Orte zu schaffen.
PERIPHERIE ALS RAUM
Als Yvonne Rudolf und Andreas Galli kurz vor der Jahrtausendwende ihr Büro gründeten, entsprachen die Grenzziehungen zwischen Stadt und Land nicht mehr den alten Begriffen — neue mussten aber erst geprägt werden. Als sie einige Jahre später ihre ersten Wohnsiedlungen realisierten, stellten sich mit den raumplanerischen Fragen um Peripherien und Agglomerationen auch architektonische: Welche Typologien würden diesen Gebieten gerecht werden? Sollten Innen- und Aussenräume unmissverständlich definiert sein — oder könnte eine Ambivalenz dieser Raumfassungen die Beziehungen zwischen den Orten aktivieren und intensivieren? Gäbe es dann, wie für Texte und Theaterstücke, verschiedene Fassungen für verschiedene Funktionen: eine Fassung des Raums für einen privaten Sonntagnachmittag, eine Fassung für siedlungsübergreifende Sommerfeste?
Was wir heute — vielleicht zu selbstverständlich — als Agglomeration und Stadtlandschaft beschreiben, bleiben Orte voller Widersprüche. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Tradition, Markt und Siedlungspolitik zeichnen ein vielschichtiges Bild. André Corboz, der bis 1993 an der ETH Zürich lehrte, prägte vor gut dreissig Jahren den Begriff des «Palimpsest» (mehrfach überschreibbares antikes oder mittelalterliches Schriftstück) als Teil des städtebaulichen Vokabulars:
«Certains planificateurs commencent eux aussi à se soucier de ces traces pour fonder leurs interventions. Après deux siècles pendant lesquels la gestion du territoire n’a guère connu d’autre recette que la tabula rasa, une conception de l’aménagement s’est plus comme un champ opératoire abstrait mais comme le résultat d’une très longue et très lente stratification qu’il importe de connaître pour intervenir.
[...] Mais le concept archéologique de stratification ne fournit pas encore la métaphore la plus appropriée pour décrire ce phénomène d’accumulation.
[...] Le territoire, tout surchargé qu’il est de traces et de lectures passées en force, ressemble plutôt à un palimpseste.» (12) Das Territorium als Ort der angesammelten Spuren und ausgelöschten Erinnerungen wird zum Palimpsest, das weder als «weisse Leinwand» wahrgenommen werden darf, wie Meilis Brief kritisierte, und ebensowenig als «Nicht-Ort», so der von Michel de Certeau und Marc Augés geprägte Begriff. (13) Vielmehr dachte Corboz mit der Metapher des Palimpsests die vielschichtigen Strukturen an, die sich in die ausgefransten und unscharfen Ränder der Städte eingeschrieben haben.
Die Verschiebungen der Aufmerksamkeit von der Peripherie zur Agglomeration und von der Grenzziehung zur Überlagerung sind bezeichnend für die veränderten Randbedingungen der architektonischen Entwürfe um die Jahrtausendwende. Texte wie Marcel Meilis Brief von 1988 lehnten sich bewusst an den Dirty Realism, eine in der amerikanischen Literaturkritik geprägte Tendenz an. Stadt und Land sollten so in kritischer Distanz zu den üblichen Kategorien der Planung ohne Vorurteile betrachtet werden. Das gedankliche Modell des Pamlipsests und die Methoden des Dirty Realism wurden zu Instrumenten gegen die Sprachlosigkeit gegenüber den Widersprüchen in der fragmentarisch besiedelten und zunehmend zersiedelten Landschaft.
Agglomeration, Akkumulation, Palimpsest: Die städtische Peripherie ist ein Raum der Schichtungen und Überlagerungen. Mit einem architektonischen Entwurf eine weitere Geschichte in diese Territorien einzuschreiben, heisst, diese Landstriche nicht länger als «jenseits der Stadtgrenze», sondern in Verbindung mit den Städten zu begreifen. Im Bereich der architektonischen Typologie bedeutet dies, zwischen allgemeinen und spezifischen Lösungen zum Grenzgänger zu werden.
(1) Marcel Meili, «Ein Brief aus Zürich», in: Lesearten, hrsg. von der Gastdozentur Eraldo Consolacio, ETH Zürich 1989, S. 163—173, hier S. 164 (deutsches Manuskript 1987, publiziert in spanischer und englischer Übersetzung in Quaderns 177, Barcelona 1988, S. 18—33).
(2) 1. (Math.) Umfangslinie, bes. des Kreises. 2. Rand, Randgebiet (z. B. Stadtrand). Quelle: Duden. Das Fremdwörterbuch, 9. Aufl., Mannheim: Dudenverlag 2007.
(3) Meili (wie Anm. 1), S. 170.
(4) Thomas Sieverts, Zwischenstadt zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land, Braunschweig: Vieweg 1997; Franz Oswald/Peter Baccini/Mark Michaeli, Netzstadt, Basel: Birkhäuser 2003; Franz Oswald/Nicola Schüller (Hrsg.), Neue Urbanität — das Verschmelzen von Stadt und Landschaft, Zürich: gta Verlag 2003.
(5) Angelus Eisinger/Michael Schneider (Hrsg.), Stadtland Schweiz, Basel: Birkhäuser 2003.
(6) Roger Diener/Jacques Herzog/Marcel Meili/Pierre de Meuron/Christian Schmid, Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait, Basel: Birkhäuser 2006.
(7) Bundesamt für Raumentwicklung (ARE), «Themen», www.are.admin.ch/themen/ laendlich (zuletzt aufgerufen: 6.2.2014).
(8) Regina Bittner, «Raum ohne Eigenschaften», in: Walter Prigge, Peripherie ist überall, Frankfurt: Campus Verlag 2000, S. 364—371.
(9) Marc Angélil/Michael Hirschbichler, Abecedarium zur Peripherie, Berlin: Ruby Press 2013. Die Bild- und Textsammlung beruft sich u. a. auf Gilles Deleuze und Félix Guattari, Mille plateaux, Paris: Les Éditions du Minuit 1980; Roland Barthes, Mythologies, Paris: Éditions du Seuil 1957 (dt.: Mythen des Alltags, Berlin: Suhrkamp 2012).
(10) Konstanze Noack, «Peripherie», in: Stephan Günzel (Hrsg.), Lexikon der Raumphilosophie, Darmstadt: WBG 2013, S. 302.
(11) Susanne Hauser/Christa Kamleithner, Ästhetik der Agglomeration, Wuppertal: Müller + Busmann 2006.
(12) André Corboz, «Le territoire comme palimpseste», in: Diogène, 121, Paris 1983, S. 14—35.
(13) Michel de Certeau, L’invention du quotidien, Paris: Union générale d’éditions 1980 (dt.: Kunst des Handelns, Berlin: Merve-Verlag 1988); Marc Augé, Non-Lieux, Paris: Le Seuil 1992.