TOPOGRAFISCHE AKZENTE: FÄRBI-AREAL, SCHLIEREN

Situation Färbi-Areal «Am Rieterpark»

Der folgende Essay ist ein Aufsatz von Sabine von Fischer aus dem Buch «Raumfassungen | Spatial Adaptations; Galli Rudolf Architekten 1998–2014», ParkBooks 2014:

https://www.park-books.com/en/product/galli-rudolf-architekten/793

Unter den neuen ausserstädtischen Siedlungen der letzten Jahre wurde kaum eine Gemeinde der Deutschschweiz so dynamisch entwickelt und dabei so genau beobachtet wie die Stadt Schlieren. Unmittelbar an der westlichen Stadtgrenze von Zürich gelegen, veranschaulicht das Beispiel von Schlieren eine mögliche städtebauliche Entwicklung von bäuerlicher zu industrieller und schliesslich zu periurbaner Kultur. Ende 1985 gab die Schlierener Färberei, wie zahlreiche andere Industriebetriebe, nur wenige Wochen nach der Schliessung der legendären Waggonfabrik, ihren Betrieb auf. Auf der anderen Seite der Gleise, gegenüber des Stadtzentrums und der Brache der «Wagi», hinterliess auch die einstige «Färbi» eine grosse Landfläche ohne Programm oder Bestimmung. Mit dem Ende der industriellen Ära und der Schliessung zahlreicher Fabriken wurde die einst florierende Industriestadt zur «Peripherie» und zum «gescheiterten Raum», der vor allem durch sein «ausserhalb» definierbar war.
Die verlassenen Industriezonen von Schlieren sind exemplarische Beispiele von Randgebieten, für welche das Konzept der «Vorstadt» nicht greift, weil sie eine eigene Geschichte haben. Ende der 1980er Jahre lagen die Transport- und Mobilitätsachsen von Eisenbahnen und Automobilen vielerorts zwischen brachliegenden Landflächen. Seit den Schliessungen der 1980er Jahre dominierten Themen wie Arbeitslosigkeit und soziales Elend. 1991 wurden kontaminierte Erdschichten vom Gelände der Färbi abgetragen [vgl. Abb. Färbi-Areal «Am Rietpark»]. (14) Ideen für eine neue Nutzung entstanden erst Jahre später. 2003 überschrieb der Tages-Anzeiger einen Artikel über Schlieren mit «Leben im ‹Abfallkübel› des Kantons». (15) Es bestand dringender Handlungsbedarf, die Gebiete nach dem Niedergang ihrer industriellen Bestimmung neuen Nutzungen zuzuführen. In diesem Jahr erarbeiteten neun Architekturbüros im Rahmen eines Studienauftrags einen Masterplan für das Areal der ehemaligen Färberei.
In ihrem Beitrag zu diesem Studienauftrag entwarfen Galli Rudolf Architekten einen städtebaulichen Bebauungsplan für das Färbi-Areal, der mit seiner programmatischen und topografischen Prägnanz so überzeugen konnte, dass er zum Wettbewerbssieger und zur weiteren Bearbeitung ausgewählt wurde [vgl. Färbi-Areal «Am Rietpark»]. Mit den drei Bebauungsbändern und dem Hochhaus am Rietpark überzeugte der Vorschlag auch durch seine ausgewogene Massstäblichkeit. Ziel war ein städtisches Quartier in Beziehung sowohl zum bestehenden Zentrum von Schlieren nördlich der Gleise wie auch zu den metropolitanen Zentren im weiteren Umfeld. Die bauliche Dichte ist so durchbrochen, dass Siedlungs- und Umgebungsräume in Austausch zueinander treten. Im Bericht vom Februar 2004 erklärte die Jury ihre Entscheidung für das Projekt von Galli Rudolf Architekten wie folgt:
«Es ist den VerfasserInnen des Projektes am Besten gelungen, mit der vorgeschlagenen Bebauungsstruktur auf die industriell und gewerblich geprägte Umgebung zu reagieren und so die Neubebauung in den baulich-räumlichen Kontext einzupassen. Das Projekt besticht durch den Vorschlag eines Regelwerkes, welches einerseits einen grossen Spielraum hinsichtlich Bebaubarkeit und andererseits eine hohe Nutzungsflexibilität zulässt. Die dadurch optimale Etappierbarkeit bildet eine inhärente Entwurfsqualität dieses bautypologisch ausgezeichneten Konzepts.» (16)
Städtebau und Gebäudetypologien folgen Regeln, deren nachvollziehbare Konsequenz gleichzeitig Offenheit und Prägnanz herstellt. Das Regelwerk des in der Folge ausgearbeiteten Gestaltungsplans geht von den linearen Strukturen des Limmattals als «Bandstadt» aus und führt auf dem Färbi-Areal eine primäre Gliederung aus Bändern in Ost-West-Richtung ein. Als sekundäre Gliederung setzt der Plan Querungen und Durchgänge in Nord-Süd-Richtung. Individuelle Identitäten erhalten die einzelnen Gebäude innerhalb ihrer winkelförmigen Silhouetten der stehenden L-Figuren durch ihre jeweils eigenen Nutzungen, Typologien und Dachformen. Auf das Prinzip der Bänder und Achsen griff auch die Metron Raumplanung AG in ihrem Entwicklungskonzept für die Gemeinde Schlieren zurück. Dieser grossräumliche Plan bezeichnete die Infrastrukturachse in Ost-West-Richtung als die globale Achse und die Landschaftsbezüge zwischen dem Fluss Limmat und den Ausläufern der Albiskette als die lokale Achse.
Der Masterplan von Galli Rudolf sah solche lokalen Bezüge mit den Bebauungsbändern, den Durchgängen und der vertikalen Artikulation der L-förmigen Silhouetten ebenfalls vor. Gross- wie kleinräumlich ist die Bebauung in die Topografie von Schlieren eingebunden.
«Schaffen eines neuen Stadtteils mit einer eigenen Identität / Silhouettenbildung mit grossem Wiedererkennungswert / eine städtebaulich und qualitativ hochwertige Verdichtung / gute Vernetzung mit dem Quartier im Mikro- und Makrobereich / grosse Flexibilität für vielfältige Nutzungen / weitreichende Elastitizität bezüglich Investitionsmöglichkeiten / gezielte Qualitätssicherung durch Vorgabe des Regelwerks / einfache Grundstruktur für die kontrollierte Umsetzung» (17)
Dies sind die acht Ziele, welche die Architekten im Planungsbericht vom Herbst 2004 festhielten. Spielraum und Etappierung als Elemente des planerischen Regelwerks minderten die ökonomischen Risiken des Grossprojekts, und sie ermöglichten für die einzelnen Gebäude expressive Silhouetten. Die Winkelform der Häuser entlang der Brandstrasse erlaubt Grösse und Höhe und trägt heute massgeblich zur Identität des neuen Stadtteils bei.
Die öffentliche Nutzung der Erdgeschosse war wichtig: Sie sind von der Strasse her einsehbar und im Volumen eingezogen. Die Eingänge zu den Wohnungen sind in die intimeren Durchgänge gesetzt, welche die Brandstrasse mit dem Rietpark verbinden. Dieser verläuft als öffentlicher Park entlang dem seit Jahrzehnten unterirdisch gelegten Rietbach, der von tief verwurzelten Bäumen nachgezeichnet wird.
In Schlieren sind nicht nur Stadt und Land zur hybriden Stadtlandschaft überlagert, auch die Gebäude selbst sind hybride Gebilde. Einen wichtigen Anstoss für diese programmatische und typologische Recherche lieferte Steven Holls Recherche zur Alphabetical City. (18) Yvonne Rudolf und Andreas Galli hatten Holls Untersuchungen zuerst während des Studiums bei Hans Kollhoff und später als Assistenten — Yvonne Rudolf bei Hans Kollhoff, Andreas Galli bei Dolf Schnebli — genauestens studiert.
«In the modern city, building function has evolved from the homogeneous to the heterogeneous. Growing densities and evolving building techniques have mixed and piled one function atop another, defying critics who contend that a building should look like ‹what it is ›. In the hybrid, form may remain absolute while function is changing and in conflict.» (19) Die von Steven Holl 1980 in seinem Buch Alphabetical City formulierten konzeptuellen Grundlagen erklären grosse Teile des experimentellen Charakters in Regelwerk und Gebäudetypologien, welche Galli Rudolf Architekten 2003 für das Färbi-Areal vorgeschlagen haben.
«So flexibel das dargestellte Regelwerk im Hinblick auf die Nutzungsbedürfnisse und Etappierung angewendet werden kann, so verlangt es doch in einigen Punkten und Details straffe Vorgaben», schrieben die Architekten im Planungsbericht. In den Besprechungen verteidigten sie die strikte Einhaltung eines zweieinhalbgeschossigen Flachbaus, eines Hochbaus mit eingezogenem Erdgeschoss wie auch der Durchgänge.
«Dachgeschosse und zurückspringende Attikageschosse sind aufgrund der erwünschten, prägnanten Silhouettenbildung nicht erlaubt», lautete zum Beispiel eine Vorgabe aus dem Planungsbericht. Um abzuschätzen, wohin solche in der Entwicklungspraxis unübliche Vorgaben führen, verlangte der Investor von den Architekten, in einem Testprojekt den Beweis einer Umsetzung zu erbringen.
Die weitere Zusammenarbeit mit den Entwicklern führte zu einer besonderen Situation, welche die Architekten beim Verfassen des Regelwerks nicht vorausgesehen hatten. In den folgenden Jahren entwarfen und realisierten sie die vier Bauten des nördlichen Bands mit den prägnanten Silhouetten entlang der Brandstrasse: zuerst, als Impuls, das Startprojekt auf dem Baufeld A4, dann auch die Baufelder A3, A2 und A1 [vgl. Abb. Färbi-Areal «Am Rieterpark»].
Als Folge der konsequenten Anwendungen der Regeln und — ebenso wichtig — des darin enthaltenen Spielraums fügen sich die vier in Form, Material und Programm unterschiedlichen Gebäude zu einem prägnanten Gesamtbild. Die Raumkonfigurationen erinnern zuweilen an das in den 1980er Jahren entwickelte Computerspiel Tetris, als ob die virtuelle Welt parallel zu den Architekturforschungen jener Zeit die typologischen Antworten für die Peripherien der Städte spielerisch vorweggenommen hätte — nur geht die Wohnungsvielfalt im Färbi-Projekt weit über die Anzahl der Elemente von Tetris hinaus.
Auf dem Färbi-Areal konnten viele Absichten der Planung realisiert werden: die Nutzungsvielfalt mit grossflächigen Hallen, vielfältigen Wohnungstypen und Ateliers, lokalen und überregionalen Unternehmen genauso wie die öffentliche Nutzung im Erdgeschoss und das Wohnen mit und in einer Dachlandschaft. Diese programmatische Arbeit des Ineinanderfügens — auf organisatorischer wie auf programmatischer Ebene — trägt nicht nur zur räumlichen, sondern auch zur Bewohnervielfalt bei.

(14) Ulrich Görlich/Meret Wandeler, Auf Gemeindegebiet. Schlieren—Oberengadin. Fotografien zum räumlichen Wandel im Mittelland und in den Alpen seit 1945, Zürich: Scheidegger & Spiess 2012, S. 7 f., www.archiv-des-ortes.ch (gesamtes Bildarchiv online zugänglich).

(15) Helene Arnet, «Leben im ‹Abfallkübel› des Kantons», in: Tages-Anzeiger, 10.10.2 003, S. 15.

(16) Studienauftrag Färbi-Areal, Schlieren ZH: Bericht des Beurteilungsgremiums, Februar 2004, S. 19.

(17) ebd.

(18) Steven Holl, Alphabetical City, Pamphlet Architecture Series 5, New York: Princeton Architectural Press, 1980. Darauf folgten von Steven Holl: Bridge of Houses, Pamphlet Architecture Series 7, 1981; Rural and Urban House Types, Pamphlet Architecture Series 9, 1983.

(19) Holl, Alphabetical City (wie Anm. 18), S. 6