Kontext als Handlungsspielraum
Der folgende Essay ist ein Aufsatz von Caspar Schärer aus der Publikation «Raumfassungen | Spatial Adaptations; Galli Rudolf Architekten 1998–2014», ParkBooks 2014:
https://www.park-books.com/en/product/galli-rudolf-architekten/793
Ein anschauliches Beispiel für die Erneuerungsstrategien von Galli Rudolf Architekten sind Instandsetzung und Umbau der Technischen Berufsschule Zürich in den Jahren 2006 bis 2008.Der 1962 fertiggestellte Bau der Architekten Eduard del Fabro und Bruno Gerosa gilt zusammen mit dem Schulhaus Looren als Höhepunkt im Schaffen der damaligen Architektengemeinschaft. (1) Er ist ein wichtiger Zeitzeuge der Schweizer Nachkriegsmoderne, mit typischen Merkmalen wie starker städtebaulicher Setzung, formaler Strenge, routiniertem Umgang mit Modul und Raster und mit einer Vorhangfassade als repräsentativem Zeichen. Doch — ganz anders als in der fast zeitgleich fertiggestellten Kantonsschule Freudenberg des jüngeren Zeitgenossen Jacques Schader mit ihren weiten und fliessenden Zwischenräumen und Zirkulationsbereichen — mangelte es dem Berufsschulhaus an der entscheidenden Stelle, nämlich beim Eingang, an räumlicher Grosszügigkeit. Das Schulhaus sollte, zusammen mit der Schule für Gestaltung, weiteren Berufsschulen und dem Schulhaus Limmat Teil der neu formulierten Zürcher «Bildungsmeile» werden; doch es fehlte eine Einbindung des Erdgeschosses in den öffentlichen Raum.
Galli Rudolf Architekten nahmen die Aufgabe einer Gesamtsanierung zum Anlass, das Schulhaus als Ganzes und dabei besonders die funktionalen Zusammenhänge genauer anzuschauen. Die auslösenden Faktoren waren vielfältige und drängende Probleme wie etwa Grundwasser, das seit der Erstellung in das Untergeschoss eindrang, die von Rostbefall bedrohten Verankerungen der Fassadenplatten, die mittlerweile mangelhafte Erdbebensicherung und die insgesamt veraltete Haustechnik. Einzelne Nutzungen sollten neu organisiert und die kleinteiligen Schulräume im Erdgeschoss sowie einige der Werkstätten im Untergeschoss aufgehoben werden.
Der Leitspruch «less is more» der siegreichen Wettbewerbseingabe bestimmte die Strategie: So verzichteten die Architekten auf eine kontrollierte Lüftung und präsentierten eine alternative Lösung für die Haustechnik. Die Glasbausteine in den Korridoren der Obergeschosse konnten so in originaler Erscheinung erhalten werden. Im Rahmen der Flachdachsanierung wurde die Abwartswohnung aufgelöst, und es wurden zwei Chemiewerkstätten im Dachgeschoss eingerichtet. Vor allem aber lösten die Architekten das Problem der fehlenden Öffentlichkeit im Erdgeschoss mit einer radikalen Änderung des Raumprogramms — sowohl gegenüber dem bestehenden Bau wie gegenüber dem Wettbewerbsprogramm: Der entscheidende Schachzug war, die ursprünglich in einem Nebentrakt geplante Mensa neben der Aula im Erdgeschoss des Hauptbaus zu platzieren. Das Gebäude wurde unter erheblichem Kostendruck und mit äusserster Sorgfalt, innen wie aussen so nahe wie möglich am Original instand gesetzt und programmatisch und in den Raumfolgen des Erdgeschosses neu definiert, ohne das äussere Erscheinungsbild des Baus zu verändern.
Galli Rudolf Architekten haben die Grammatik der Nachkriegsarchitektur exakt gelesen, verstanden und weitergeführt. Der zuvor schon durchgängig verglaste Eingangsbereich wurde leergeräumt und erlaubt jetzt einen Durchblick durch mehrere Raumschichten, vom Foyer durch einen fast vergessen gegangenen Innenhof bis zur neuen Mensa. Noch eine Schicht weiter befand sich früher die Werkhalle, die jetzt, zur Aula umgewandelt, zusammen mit Mensa und Patio den zentralen und öffentlich zugänglichen Bereich bildet.
Die architektonischen Details waren für den Ausdruck und damit die städtebauliche Bedeutung der Technischen Berufsschule entscheidend. Die in den 1950er Jahren sorgfältig und feingliedrig entworfenen Aluminiumfenster wurden den gegenwärtigen energetischen Anforderungen entsprechend neu entworfen. Bei einigen der Fassadenelemente musste die Verankerung ersetzt werden; dies geschah so präzise, dass ihr Austausch kaum zu bemerken ist. Diese Hartnäckigkeit im Detail ist nicht einfach eine Spielerei, sie ist dem baulichen Erbe verpflichtet und mit ihrer dauerhaften Qualität auch der Zukunft. Wirkt das Gebäude also dank der gelungenen Fassadensanierung heute frischer und fast «echter» als zuvor, erstaunt am neuen, offenen Erdgeschoss in erster Linie die Tatsache, dass es nicht schon immer so war.