Caspar Schärer
KONTEXT ALS HANDLUNGSRAUM.
ERNEUERUNGSSTRATEGIEN AUS EINEM ERWEITERTEN KONTEXTBEGRIFF
Im Architekturschaffen ist mit «Kontext» in der Regel der «städtebauliche Kontext» gemeint: ein wie auch immer geartetes Umfeld in einer mehr oder weniger direkten Nachbarschaft des Bauplatzes. Der Kontext ist schon da. Mittlerweile haben sich Architektinnen und Architekten grosse Fertigkeiten in seiner Interpretation angeeignet. Leider macht es der städtebauliche Kontext den entwerfenden Architekten oft schwer, etwa wenn er uneinheitlich ist, wenn er widersprüchliche Signale aussendet oder einfach nur banal ist.
In diesem Beitrag wird der Kontextbegriff eingeengt — oder ausgeweitet, je nach Sichtweise. Wer sich an eine Gebäudeerneuerung wagt, engt seinen Blickwinkel auf ein einzelnes Objekt ein und erweitert ihn gleichzeitig auf eben jenen Kosmos, den dieses bereits darstellt. Bei Projektierungen an bestehenden Bauten — dies reicht von der Instandhaltung über Instandsetzung, Umbau und Erweiterung bis zur Erneuerung durch einen Ersatzbau — sind nicht nur die anderen Häuser, Strassen und sonstigen Aussenräume gegebene Grössen, sondern vor allem das zu erneuernde Gebäude. Es soll verändert werden, angepasst an die heutige Zeit. In den Briefings ist dann die Rede von «Bedürfnissen», die sich verändert hätten, oft auch von «verschärften Vorschriften und Normen», Sachzwängen also. Angefangen bei den statischen Elementen, weiter über die Fenster, die Anschlüsse und den Bauschmuck bis hin zu den Menschen, die das Haus bis anhin, vielleicht auch während des Umbaus und vor allem danach wieder nutzen. Um diese Nutzerbedürfnisse geht es ja, sie gilt es im Auge zu behalten.
Was alles zu einem Kontext gehören kann, zeigt schlaglichtartig der Erläuterungstext der Architekten zur Erneuerung der Wohnsiedlung Glanzenberg in Dietikon:
«Bei den beiden Wohntürmen umfasste die Aufgabenstellung eine wärmetechnische Erneuerung der Gebäudehülle, eine massvolle Erneuerung der Haustechnik sowie der Bäder und Küchen inklusive Strangsanierung. Auch war die Lärmproblematik für die Hochhäuser zwischen dem Gleisfeld und der viel befahrenen Hauptstrasse zu lösen. Bei den Wohnungen galt es, mit geringer Eingriffstiefe eine Verbesserung der Raumstruktur zu bewirken. Ebenso musste dem Umstand der Instandsetzung und des Umbauens in bewohntem Zustand Rechnung getragen werden.»
Wie eine Kaskade sind hier alle Aspekte eines heutigen Umbaus aufgeführt, es fehlen lediglich noch die Anpassung an neue Erdbebenvorschriften und die Erwähnung der Kosten. Dass diese beim Bauen für eine Genossenschaft knapp bemessen sind, kann als gegeben vorausgesetzt werden. Trotz dieses Korsetts der Rahmenbedingungen erscheinen die Häuser heute mit völlig veränderter Ausstrahlung. Nicht nur die räumlichen Strukturen, auch die Fassaden sind erneuert: Leuchtend orange und rot strahlen die Türme über das Limmattal aus, als Landmarken und Meilensteine des Aufbruchs eines vernachlässigten Stücks städtischer Peripherie. Wie sich in den folgenden Beschreibungen von Eingriffen an sechs Schul- und Wohnbauten zeigen wird, bildet diese plakative Sichtbarkeit der Eingriffe in Dietikon–Glanzenberg die Ausnahme — und doch ist dieses Projekt bezeichnend für die Arbeitsweise von Galli Rudolf Architekten.
Jedes Projekt ist anders, und es gibt keine Rezepte. Gerade bei Erneuerungen zeigen sich Interessen und Strategien eines Architekturbüros besonders pointiert: Den hier besprochenen Arbeiten gemeinsam ist eine ganzheitliche Sicht auf das Objekt und die Aufgabe. Vielseitige Erfahrungen ermöglichen es den Architekten, auch komplexe Problemstellungen umsichtig zu bearbeiten, unter Umständen auch neu zu formulieren. Sie begegnen ihren Aufgaben mit unvoreingenommener Neugierde und ausgeprägt strategischem Vorgehen. Ein Ziel wird formuliert, und auf dem Weg dorthin wird immer wieder überprüft, ob man auf Kurs ist. Es gilt herauszufinden und dann festzulegen, welche Einzelheiten für das Ganze entscheidend sind — ohne sich in Details zu verlieren. Nicht der Weg, sondern das Ziel ist das Ziel.

EIN SCHULHAUS IN DIE STADT EINBINDEN: TECHNISCHE BERUFSSCHULE ZÜRICH
Ein anschauliches Beispiel für die Erneuerungsstrategien von Galli Rudolf Architekten sind Instandsetzung und Umbau der Technischen Berufsschule Zürich in den Jahren 2006 bis 2008.Der 1962 fertiggestellte Bau der Architekten Eduard del Fabro und Bruno Gerosa gilt zusammen mit dem Schulhaus Looren als Höhepunkt im Schaffen der damaligen Architektengemeinschaft. (1) Er ist ein wichtiger Zeitzeuge der Schweizer Nachkriegsmoderne, mit typischen Merkmalen wie starker städtebaulicher Setzung, formaler Strenge, routiniertem Umgang mit Modul und Raster und mit einer Vorhangfassade als repräsentativem Zeichen. Doch — ganz anders als in der fast zeitgleich fertiggestellten Kantonsschule Freudenberg des jüngeren Zeitgenossen Jacques Schader mit ihren weiten und fliessenden Zwischenräumen und Zirkulationsbereichen — mangelte es dem Berufsschulhaus an der entscheidenden Stelle, nämlich beim Eingang, an räumlicher Grosszügigkeit. Das Schulhaus sollte, zusammen mit der Schule für Gestaltung, weiteren Berufsschulen und dem Schulhaus Limmat Teil der neu formulierten Zürcher «Bildungsmeile» werden; doch es fehlte eine Einbindung des Erdgeschosses in den öffentlichen Raum.
Galli Rudolf Architekten nahmen die Aufgabe einer Gesamtsanierung zum Anlass, das Schulhaus als Ganzes und dabei besonders die funktionalen Zusammenhänge genauer anzuschauen. Die auslösenden Faktoren waren vielfältige und drängende Probleme wie etwa Grundwasser, das seit der Erstellung in das Untergeschoss eindrang, die von Rostbefall bedrohten Verankerungen der Fassadenplatten, die mittlerweile mangelhafte Erdbebensicherung und die insgesamt veraltete Haustechnik. Einzelne Nutzungen sollten neu organisiert und die kleinteiligen Schulräume im Erdgeschoss sowie einige der Werkstätten im Untergeschoss aufgehoben werden.
Der Leitspruch «less is more» der siegreichen Wettbewerbseingabe bestimmte die Strategie: So verzichteten die Architekten auf eine kontrollierte Lüftung und präsentierten eine alternative Lösung für die Haustechnik. Die Glasbausteine in den Korridoren der Obergeschosse konnten so in originaler Erscheinung erhalten werden. Im Rahmen der Flachdachsanierung wurde die Abwartswohnung aufgelöst, und es wurden zwei Chemiewerkstätten im Dachgeschoss eingerichtet. Vor allem aber lösten die Architekten das Problem der fehlenden Öffentlichkeit im Erdgeschoss mit einer radikalen Änderung des Raumprogramms — sowohl gegenüber dem bestehenden Bau wie gegenüber dem Wettbewerbsprogramm: Der entscheidende Schachzug war, die ursprünglich in einem Nebentrakt geplante Mensa neben der Aula im Erdgeschoss des Hauptbaus zu platzieren. Das Gebäude wurde unter erheblichem Kostendruck und mit äusserster Sorgfalt, innen wie aussen so nahe wie möglich am Original instand gesetzt und programmatisch und in den Raumfolgen des Erdgeschosses neu definiert, ohne das äussere Erscheinungsbild des Baus zu verändern.
Galli Rudolf Architekten haben die Grammatik der Nachkriegsarchitektur exakt gelesen, verstanden und weitergeführt. Der zuvor schon durchgängig verglaste Eingangsbereich wurde leergeräumt und erlaubt jetzt einen Durchblick durch mehrere Raumschichten, vom Foyer durch einen fast vergessen gegangenen Innenhof bis zur neuen Mensa. Noch eine Schicht weiter befand sich früher die Werkhalle, die jetzt, zur Aula umgewandelt, zusammen mit Mensa und Patio den zentralen und öffentlich zugänglichen Bereich bildet.
Die architektonischen Details waren für den Ausdruck und damit die städtebauliche Bedeutung der Technischen Berufsschule entscheidend. Die in den 1950er Jahren sorgfältig und feingliedrig entworfenen Aluminiumfenster wurden den gegenwärtigen energetischen Anforderungen entsprechend neu entworfen. Bei einigen der Fassadenelemente musste die Verankerung ersetzt werden; dies geschah so präzise, dass ihr Austausch kaum zu bemerken ist. Diese Hartnäckigkeit im Detail ist nicht einfach eine Spielerei, sie ist dem baulichen Erbe verpflichtet und mit ihrer dauerhaften Qualität auch der Zukunft. Wirkt das Gebäude also dank der gelungenen Fassadensanierung heute frischer und fast «echter» als zuvor, erstaunt am neuen, offenen Erdgeschoss in erster Linie die Tatsache, dass es nicht schon immer so war.




(1) 1953 wurde der öffentliche Projektwettbewerb für den Neubau der Mechanisch-Technischen Gewerbeschule der Stadt Zürich zugunsten von del Fabro und Gerosa entschieden. 1959—1962 wurden der Haupttrakt und der Werkstatttrakt I, 1965—1967 der Werkstatttrakt II realisiert.

SPURENSICHERUNG UND ZEICHENSETZUNG: SCHULHAUS BÜHL
Parallelen zur Erneuerung der Technischen Berufsschule zeigen sich im Vorgehen der Architekten bei Instandsetzung und verschiedenen Umbauten der Turnhallen- und Schultrakte im Schulhaus Bühl in Zürich-Wiedikon in den Jahren 2001 bis 2004 . Auch hier sind die Eingriffe subtil in den Kontext gesetzt; sie offenbaren sich erst auf den zweiten Blick, dann aber umso einprägsamer. Die dreiteilige Schulanlage des neugotischen Ensembles thront auf dem Bühlhügel über dem Stadtteil Wiedikon. Sie trägt für die damalige Zeit typische Elemente: schwere Bruchsteine an den Gebäudekanten, farbige Malerei, feingliedrige Dachabschlüsse und Schieferdächer. Und sie ist im Inventar der schützenswerten Bauten von kommunaler Bedeutung eingetragen.
Direkte Folge der Inventarisierung ist die annähernde Unsichtbarkeit von Umbaumassnahmen: Das Neue bleibt auf den Innenraum beschränkt. Bei der neuen Schieferdeckung der Dächer und der Sanierung der Natursteinfassaden wurden die Proportionen der Dachrandabschlüsse und der Fensterprofilierung sorgfältig beibehalten und die kontrastreiche Farbigkeit der Friesmalerei wiederhergestellt. Eine Ausnahme ist die gedeckte Pausenhalle aus Sichtbeton, welche die Architekten neben dem Haupttrakt A platzierten. Das in einer sorgfältigen Schalung ausgeführte Objekt steht nah am Schulhaus und ist doch eigenständig. Unauffällig gliedert es den ganzen Hof.
Wie beim Schulhaus im Industriequartier galt es in Wiedikon, eine verbindliche Strategie für die Umbauten des Turnhallen- und Schultrakts C (2001—2003) und des obersten Geschosses im Trakt A (2004) festzulegen und dieser Spur konsequent zu folgen. Der Trakt C ist kein eigentlicher Klassentrakt, sondern eine symmetrische Anlage mit zwei seitlichen Turnhallen und einem schmalen, dreieinhalbgeschossigen Giebelhaus in der Mitte. Neben dem üblichen Pflichtprogramm der Instandhaltung der Gebäudehülle, das beispielsweise auch den diskreten Einbau von Stoffstoren als Sonnenschutz bei den Fenstern beinhaltete, und der sanften Erneuerung und technischen Aufrüstung der Turnhallen standen wieder — dies als letzte Gemeinsamkeit mit der Berufsschule — markante räumliche Entscheidungen im Eingangsbereich an. Die Notwendigkeit, einen Lift einzubauen, bot die Gelegenheit, den Grundriss zu öffnen. Dass die Architekten eine nachträglich eingebaute Wandscheibe entfernten und durch eine gusseiserne Säule ersetzten, macht die Eingangshalle durchlässiger und übersichtlicher. Die schwarze Säule markiert den Schwerpunkt des Gebäudes und wirkt mit dem Fuss und der Kopfplatte einerseits schwer und mächtig, andererseits scheinen die überproportionale Verdickung in der Mitte und die Verjüngung am Fuss und unter der Deckenplatte dem gesamten Raum eine Dynamik zu verleihen. Die Säule ist ein eigenes architektonisches Objekt, das gleichzeitig hinzugefügt und in die Struktur integriert wirkt. Sie nimmt eine klare Formensprache an und trägt doch keine eindeutige Handschrift — ganz im Sinne eines Weiterbauens am Bestand.
Diese Haltung der «Arbeit am und mit dem Gebäude» setzt sich in allen weiteren Geschossen und den beiden Turnhallen fort. Vor allem die Obergeschosse, die im Lauf der Jahrzehnte von immer neuen Nutzungen beansprucht und durch Einbauten stark verändert worden waren, konnten auf bemerkenswert einfache Weise neu geordnet werden. Die verhältnismässig kleine Grundfläche eines Stockwerks bot eine ideale Ausgangslage für ein bewährtes, ebenfalls aus der Gründerzeit stammendes Prinzip der Wohnungsorganisation: Um einen zentralen Raum gruppieren sich alle weiteren Zimmer und sind von diesem erschlossen. Dieser Raum wurde wie ein Koffer mit einem neuen Futter ausgestattet, in dessen Tiefe die neuen technischen Anlagen liegen und dessen harte, glatte Wände den Eingriff unmissverständlich preisgeben. Die alte und die neue Struktur bilden zusammen ein stimmiges und selbstverständliches Ganzes. Ebenso verhält es sich mit der Beleuchtung im Treppenhaus, die als neu erkennbar ist und dabei wie beiläufig das Alte ergänzt.
Der Einbau der Bibliothek im Trakt A folgte dem Wunsch, den 21 Schulklassen eine eigene Bibliothek zur Verfügung zu stellen. Da kein Klassenzimmer umgenutzt werden konnte und das Budget knapp war, geschah dies im Dachgeschoss. Der eigentliche Eingriff besteht im eierschalenfarbigen Büchergestell, das die ganze Länge der Südwand des Korridors einnimmt. Mit Glaseinsätzen innerhalb des originalen Türrahmens aus dunklem Tannenholz wurde die Raumstimmung erhalten, neue Sichtverbindungen wurden geschaffen und zugleich die Brandschutzanforderungen erfüllt.
Hinter diesen Arbeiten steht eine von Respekt und Differenzierung geprägte, versöhnliche Betrachtungsweise zur bestehenden Bausubstanz. In diesem neueren denkmalpflegerischen Verständnis verschmelzen die Sphären von Alt und Neu geradezu — das war nicht immer so.
ERNEUERUNG ALS VERTRACKTES PROBLEM
Vor 100 Jahren — noch vor der Moderne — forderten erste Denkmalpfleger, dass sich das Neue, Hinzugefügte deutlich vom Alten, Bestehenden unterscheiden solle. Schliesslich sei das Alte ein kunsthistorisches Unikat von besonderem Wert, hiess es damals, und die Reinheit des authentisch Alten müsse um jeden Preis gewahrt bleiben. Am ersten Tag für Denkmalpflege im Jahr 1900 war die Forderung nach einer Unterscheidung von Alt und Neu noch eine Aussenseiterposition, die aber bald von der Mehrheit übernommen wurde. (2) Die Modernisten der 1920er und 1930er Jahre nahmen dieses Argument noch so gerne auf: Ihre Bauten wollten mit der Vergangenheit nichts zu tun haben. Allein schon der Schlachtruf des «Neuen Bauens» ist unmissverständlich genug, auch wenn etliche dieser Objekt-Bauten in bestehenden Umgebungen standen. Die Charta von Venedig von 1964, die Grundlage der modernen Denkmalpflege, schrieb das Dogma des Alt und Neu abgrenzenden Kontrastes fest. In Artikel 12 wird ausdrücklich verlangt, dass
«Elemente, welche dazu bestimmt sind, fehlende Teile zu ersetzen, […] sich dem Ganzen harmonisch eingliedern, aber dennoch vom Originalbestand unterscheidbar sein [müssen], damit die Restaurierung den Wert des Denkmals als Kunst- und Geschichtsdokument nicht verfälscht.»
Falls die Eingliederung nicht möglich ist, schreibt Artikel 9 eine ablesbare Differenzierung vor:
«Dort, wo es sich um hypothetische Rekonstruktionen handelt, wird jedes Ergänzungswerk, das aus ästhetischen oder technischen Gründen unumgänglich notwendig wurde, zu den architektonischen Kompositionen zu zählen sein und den Charakter unserer Zeit aufzuweisen haben.» (3)
Mit der Zunahme des Erneuerungsbedarfs bei Bauten entwickelte sich einerseits eine Routine, andererseits eine neue Betrachtungsweise des Verhältnisses zwischen Alt und Neu. In den 1990er Jahren entdeckten viele Architekten — und hier spielen Galli Rudolf Architekten mit ihren Umbaustrategien eine wichtige Rolle — feinere und weiter verzweigte Bezugsebenen (und Kontexte); das revidierte Verhältnis vom Neuen zum Alten wird seither treffend als «Weiterbauen» umschrieben. Eines der bekanntesten Projekte in dieser neueren Haltung ist David Chipperfields Umbau des Neuen Museums in Berlin, der ihm von gewisser Seite der Berliner Fachwelt viel Widerspruch einbrachte, vom Publikum aber sofort geliebt und in Beschlag genommen wurde. Mit dem Verlassen der eindeutigen Positionen geht eine Steigerung der Komplexität einher. Oft stehen die Planerinnen und Planer vor «vertrackten Problemen», zu deren Lösung unter Umständen sich widersprechende Taktiken angewandt werden müssen. (4)
(2) vgl. dazu Thomas Will, «Grenzübergänge», in: werk, bauen + wohnen, Nr. 6/2003, Zürich Werk Verlag 2003, S. 50–57.
(3) Die Charta von Venedig wurde Ende Mai 1964 am II. Internationalen Kongress der Architekten und Techniker der Denkmalpflege verabschiedet.
(4) Den Begriff des wicked problem prägten Horst W. J. Rittel und Melvin M. Webber in ihrem 1973 erschienenen Aufsatz «Dilemmas in General Theory of Planning», in: Policy Sciences 4, Nr. 2, Amsterdam: Elsevier B.V. 1973, S. 155–196.

KLINIK ALS DORF: CLIENIA LITTENHEID
Je vertrackter die Probleme, desto wichtiger die Strategien, der Blick auf das Ganze und die Prozesse, die zum Ziel führen. Dieses Ganze und somit das Ziel des Eingriffs lag bei den bisher beschriebenen Umbauten von Schulhäusern neben der bauphysikalischen Aufdatierung in einer Verbesserung der räumlichen Qualitäten. Konzentrierten sich diese Umbauprojekte auf den unmittelbaren Kontext der einzelnen Gebäude, fassen die Um- und Neubauten im thurgauischen Littenheid den Begriff des Um- und Weiterbauens weiter und beziehen ihn auf ein ganzes Dorf . Die Clienia Littenheid, eine Privatklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, behandelt im Auftrag mehrerer Kantone Patienten verschiedenster Altersgruppen, von 10-Jährigen bis ins hohe Alter. Littenheid liegt nur wenige Kilometer südwestlich des Bahnhofs Wil SG in einer idyllischen Landschaftskammer, einem kleinen Tal, das sich in mehreren Windungen durch sanfte Hügel schlängelt. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird an der aus einer Schule, dann einem Altersheim und später einem Asyl hervorgegangenen Anlage weitergebaut. Heute präsentiert sie sich als regelrechtes «Klinikdorf» mit mehreren Dutzend Gebäuden und einem grossen Park. Der Ausbau erfolgte jeweils nach pragmatischen Gesichtspunkten: Bei Bedarf wurden die benötigten Immobilien bereitgestellt und mit mehr oder weniger guter Architektur in die Anlage integriert. In Zusammenarbeit mit dem Privatbesitzer studierten die Architekten 2008 in einem Masterplan das strategische Potenzial der bestehenden Bauten und fassten mögliche Ausbauschritte ins Auge; dabei stellten sich architektonische wie siedlungs- und landschaftsräumliche Fragen. Im heterogenen Bestand gab es keine eindeutigen Antworten — vielmehr waren für eine Aufwertung der Dorfstruktur Eingriffe auf mehreren räumlichen wie organisatorischen Ebenen notwendig.
Die grundlegenden Gedanken dieses Masterplans verlangten eine präzise Positionierung eines Ökonomiegebäudes, das 2010 am südwestlichen Rand der Anlage an einer der Einfahrten gebaut wurde. Der Begriff «Ökonomiegebäude» lehnt sich an die landwirtschaftliche Tradition des Tals an und bedeutet, dass der Neubau im Dienste der gesamten Klinik steht. Er nimmt eine Grossküche auf, die drei Mal täglich 360 Menüs produziert und auf die 24 Patientenstationen verteilt. Die Küche, nach dem Prinzip der höchsten Effizienz auf reibungslose Abläufe ausgelegt, gewährleistet kurze Distanzen und gegenseitigen Blickkontakt. Überall sind die Zeichen einer sorgfältigen architektonischen Durchbildung auch im Detail sichtbar: So leisten anstelle des bei Grossküchen üblichen Chromstahls weiss eloxierte Aluminiumbleche einen Beitrag zur freundlichen Helligkeit im Raum. Eine strikte Funktionalität schliesst Gestaltung nicht aus — solange sich Architekten mit dem ganzen Gewicht ihres Fachwissens für die Architektur einsetzen.
Wie alle sekundären und «dienenden» Funktionen, wie Stallungen und Werkstätten, ist auch die Küche peripher im Ensemble der Klinik angesiedelt. Der Neubau vermittelt so zwischen den massiven Gebäuden im Zentrum der Anlage und dem umgebenden offenen Landwirtschaftsland. Seine Materialisierung in Holz ist demnach naheliegend — die konkrete Ausformulierung als fein strukturiertes, weiss lasiertes Holzkleid um ein kompaktes, scharfkantiges Bauvolumen deutet an, dass es sich hier um einen besonderen, geradezu veredelten Gewerbebau handelt. Die weisse Farbe verweist auf die Reinheit und Sauberkeit, die im Innern herrschen muss, und zeichnet das Gebäude als wichtige Schaltstelle des Betriebs aus. Ein durchgehender Betonsockel gleicht das leicht abfallende Terrain und die unterschiedlichen Verladehöhen von Lieferwagen und kleineren Fahrzeugen aus. Zwei kräftig artikulierte Vordächer signalisieren diese Bewegungsströme weit über das Gebäude hinaus in den Siedlungs-, Verkehrs- und Landschaftsraum des Klinikdorfs.




FREI STEHENDE ERGÄNZUNG: SONDERSCHULHEIM ILGENHALDE
Die Frage, ob ein Bau instand gesetzt, umgebaut oder ersetzt werden soll, lässt sich selten anhand eines isolierten Parameters beantworten; vielmehr ist dies eine «vertrackte Problemstellung». Im Verlauf der Untersuchungen im Rahmen des Konkurrenzverfahrens für die Teilerneuerung des Sonderschulheims Ilgenhalde zeigte der Vergleich eines Umbau- und eines Neubauprojekts, dass für die Schule ein von der bestehenden Anlage abgelöster Ersatzneubau in vielerlei Hinsicht den Bedürfnissen besser gerecht würde und damit zugleich die Geschlossenheit der Anlage aufgelöst werden könnte. Auch das Kosten-Nutzen-Verhältnis stimmte so. Die Schule und das Wohnheim für Kinder mit geistiger und körperlicher Mehrfachbehinderung
wurde in den 1960er Jahren als «Verein Kinderheim Ilgenhalde» von der Zürcher Caritas ins Leben gerufen. 1974 wurde mit bescheidenen Mitteln von den Architekten Mennel & Rüdt, Zürich, nach damaliger Auffassung Schule und Heim in einer Anlage erstellt. Die von aussen geschlossen wirkende Anlage war um eine Art künstliche Landschaft gruppiert, und alle Nutzungen waren über gedeckte Wege miteinander verbunden. Die einzelnen Gebäudeflügel wurden entlang einer Art Mittelachse astförmig angeordnet — die reihenhausartigen Wohngruppenhäuser im Süden, die Infrastrukturbereiche im Zentrum, nördlich und östlich ein Andachtsraum mit Kapelle, die Sporthalle mit Therapiebad sowie die Schulräume.
Die Öffnung der Anlage und die Trennung von Wohngruppen, Therapie- und Schulbau entsprechen in der heutigen Auffassung einer Normalisierung des Alltags. Der Ersatz der Schulräume im abschliessenden Gebäudeflügel im Osten durch einen abgerückten und frei stehenden zweigeschossigen Pavillonbau vermochte die geschlossene Struktur aufzubrechen und den neu gestalteten Hofraum parkartig mit der Landschaft zu verzahnen. Auch konnten letztlich nur mit einem Ersatzneubau die heutigen schulischen und differenzierten therapeutischen Anforderungen erfüllt werden. Der Idee des Zusammenlebens wurde sowohl im Innen- wie im Aussenraum mit grosszügigen Bewegungs- und Begegnungsflächen entsprochen. Diese waren auch funktional für die teilweise platzintensiven Mobilitätshilfen einzelner Kinder notwendig.
Die Instandsetzung folgte dem Grundsatz, die entscheidenden Schwachpunkte mit sparsamen Mitteln zu beheben und den wesentlichen, seit den 1970er Jahren veränderten Bedürfnissen gerecht zu werden. Die teilweise undichte, mit Rissen durchzogene Fassade wurde von aussen gedämmt und der Entstehungszeit entsprechend grobkörnig neu verputzt. Die Fenster wurden mit zeitgemässen Holz-Metall-Fenstern ersetzt. Küche und Wäscherei wurden erneuert, die Turnhalle wurde ausgebaut. Den grössten Eingriff stellt aber der Einbau einer Aula mit beidseitig bespielbarer Bühne im ehemaligen Andachtsraum dar: Hier zeigt sich am deutlichsten, dass die neuen Bedürfnisse sich nicht nur funktional, sondern auch in veränderten gesellschaftlichen Vorstellungen des gemeinschaftlichen Lebens begründen.

KOSMETIK UND CHIRURGIE AM BETON: WOHNHÄUSER WASSERSCHÖPFI
Bei den umfassenden Massnahmen zur Instandsetzung der Wohnhäuser Wasserschöpfi sollte in erster Linie der architektonische Charakter der Gebäude erhalten bleiben . Die plastisch modellierten Sichtbetonbauten, erbaut 1968 vom Architekten Fritz Schwarz, gelten als wichtige Zeugen der Stadtzürcher Baukultur. Im ansonsten gefälligen Vorstadtquartier mit seinen viergeschossigen, verputzten Häuserzeilen mit flachen Satteldächern fallen die beiden aneinandergebauten Mietshäuser mit ihren scharf geschnittenen Kanten und dem sich deutlich abzeichnenden horizontalen Schalungsmuster auf. Gefordert war eine Verbesserung der Wärmedämmung in der Fassade; gleichzeitig wurde im Zuge der Umbauten das Spektrum an Wohnungsgrössen erweitert. Kleinere Einheiten wurden zu Fünfeinhalbzimmer-Wohnungen zusammengelegt, und in allen Wohnungen wurden die Raumkonglomerate zu Sequenzen aus Küche und Wohn-Esszimmer geöffnet.
Für Andreas Galli und Yvonne Rudolf war seit Beginn der Planungen im Jahr 2000 klar, dass die ausdrucksstarke Sichtbetonfassade nicht hinter einer neuen isolierenden Hülle verschwinden durfte, auch wenn ein solcher zusätzlicher «Wintermantel» die wohl am weitesten verbreitete Lösung für die wärmetechnischen Probleme der Nachkriegsmoderne ist. Es brauchte einiges an Überzeugungsarbeit, bis alle Beteiligten bereit waren, einen steinigeren und weniger ausgetretenen Pfad zu beschreiten. Die architektonische Präsenz der ausdrucksstarken Betonfassade konnte bewahrt werden. Diese Bereitschaft weiterzudenken ist umso bemerkenswerter, als rohe Sichtbetonbauten aus der Zeit der Hochkonjunktur beim Publikum generell einen schweren Stand haben. Genaue Untersuchungen am Gebäude zeigten auf, dass ein Ersatz der Innenisolation und eine zusätzliche Dämmung von Kellerdecke und Dach die gewünschte Verbesserung leisten würden. In Kombination mit neuen Fenstern, die entsprechend der Arbeitshaltung der Architekten so nah wie möglich am Original entworfen wurden, sowie einer kontrollierten Wohnungslüftung war die Frage der energetischen Optimierung beantwortet.
Auch hier verbanden die Architekten Neugierde, Erfahrung und die Liebe zum Detail, indem sie im Innern die Wohnungen an heutige Standards anpassten und nach aussen die Erscheinung der Betonstrukturen in aller Plastizität zum Ausdruck brachten. Es gab etliche Stellen, an denen die äusserste Schicht durch Korrosion der darunterliegenden Armierungseisen beschädigt war. Einige waren schon an der Oberfläche sichtbar, andere mussten mit einer speziellen Sonde lokalisiert werden. Anders als bei üblichen Betonsanierungen wurde die Oberfläche nicht mit einer flächendeckenden Schlemme repliziert, vielmehr bleibt weiterhin der originale Beton sichtbar. Nach der Reinigung der Eisen wurden die Löcher mit einer Repliziermasse aufgefüllt und die Flickstellen an die bestehende Oberflächenstruktur der für die 1960er Jahre typischen kleinteiligen und sägerohen Schalungsbretter angeglichen. Zur ohnehin komplexen Instandsetzung der Betonfassade kommt ein tatsächliches «Weiterbauen»: Die gartenseitigen Balkone wurden um einen halben Meter erweitert, was den Abbruch der alten Sichtbetonbrüstungen an der Längsseite bedingte, gefolgt von einem Anfügen an die Balkonplatten und einem Aufbau neuer Brüstungen mit der gleichen horizontalen Bretterschalung. Die vergrösserten Balkone integrieren sich problemlos in die plastische Figur der Gebäude.
Das Schulhaus der Technischen Berufsschule und die Wohnhäuser Wasserschöpfi zeigen es deutlich: Die Erneuerung von Bausubstanz aus der «Zweiten Moderne» zwischen 1950 und 1975 ist eine umfangreiche Aufgabe ohne allgemeingültige Rezepte — vielmehr muss von Bauaufgabe zu Bauaufgabe untersucht werden, ob es genüge oder angebracht sei, den bestehenden Bau lediglich instand zu halten oder ob er vielmehr entsprechend heutiger Bedürfnisse instand gesetzt werden oder umgebaut werden müsse. Ein besonders kritischer Aspekt ist nur schon die Anzahl der Bauten: Nachdem sich während der Nachkriegszeit innerhalb einer Generation der umbaute Raum in der Schweiz verdoppelt hatte, muss heute ein Umgang für die Pflege und Entwicklung der schieren Menge dieser Bauproduktion gefunden werden.


WOHNWERTE AM HORIZONT: WOHNHOCHHÄUSER DIETIKON–GLANZENBERG
Bei der Aufdatierung der Hochhäuser von Glanzenberg in Dietikon stellten sich ganz andere Fragen als etwa bei der Erhaltung der wertvollen Kleinode an der Wasserschöpfi. Ging es bei letzteren darum, ihren architektonischen Charakter zu erhalten und in eine Jetzt-Zeit zu überführen, wurde bei den Hochhäusern in Dietikon die prägnante volumetrische Erscheinung, die weit ins Limmattal ausstrahlt, zusätzlich betont und zeichenhaft überhöht. Die Wasserschöpfi ist demnach als didaktisches Projekt zu verstehen, Glanzenberg hingegen als städtebaulicher Eingriff, der die Hochhäuser als solche erst lesbar macht .
Der Standort der Hochhäuser Glanzenberg im Limmattal in unmittelbarer Nähe zu Verkehrssträngen von nationaler Bedeutung spielte bei der Neuinterpretation eine wichtige Rolle. Gemeinhin wird eine derartige Lage nicht als attraktiv bewertet, und auch das Image des Wohnhochhauses hat nach dem kurzen Boom der 1960er Jahre einen tiefen Absturz erlebt. Langsam findet in dieser Hinsicht jedoch wieder ein Umdenken statt, gerade auch in Bezug auf die Nachhaltigkeit, bietet doch das Wohnhochhaus nach wie vor eine effiziente und platzsparende Variante der Verdichtung. Die Bausubstanz der beiden Wohnhochhäuser im Besitz einer Baugenossenschaft war zwar nicht mehr auf dem Stand der Zeit und wurde nicht als wertvoll eingeschätzt, sollte aber wegen der hohen Ausnützung des Grundstücks erhalten bleiben. Die technischen Verbesserungen führten die Architekten beim Umbau der beiden 13-geschossigen Hochhäuser sorgfältig durch; der Kern des Projekts liegt jedoch in der gewandelten räumlichen Struktur, die mit einer neuen Erscheinung unterstrichen wurde.
Entscheidend ist die architektonische Antwort auf eine architektonische Frage. Dabei geht es im Grunde um zwei Begriffe: Wohnwert und Ausstrahlung. Der Wohnwert betrifft in erster Linie das Innere des Hauses, im Fall eines Hochhauses den Eingangsbereich im Erdgeschoss und natürlich die Wohnung selbst. Hier erweiterten Galli Rudolf Architekten die alten Balkone zu rund 20 Quadratmeter grossen Loggien, die über die ganze Breite einer Wohnung reichen. Der Rest des Grundrisses blieb mehrheitlich unangetastet. Die Ausdehnung der Balkone hatte Auswirkungen auf die äussere Erscheinung, was letztlich zu einer völligen Neuinterpretation des architektonischen Charakters führte. Die Architekten passten die neuen Balkone in die plastisch geformten Baukörper, reduzierten auf diesem Weg die Gliederung und strafften die Fassade. Mit den durchgehenden Brüstungen setzte der Entwurf ein starkes horizontales Element, das, streng übereinandergeschichtet, den Ausdruck der Hochhäuser prägt. Die zuvor ausgeprägten vertikalen Linien werden durch eine gewellte Profilblechverkleidung mit eigens entworfener Form moduliert. Insgesamt sind Horizontale und Vertikale jetzt in einem ausgeglichenen Verhältnis. In Szene gesetzt werden die beiden Hochhäuser aber erst durch die auffällige Farbgebung, die zur oben erwähnten Ausstrahlung führt. Die Profilblechverkleidung leuchtet in einem satten Rot, während die Balkonbrüstungen als orange Streifen strahlen. Schwarze Rahmen fassen die Brüstungen und die Fenster ein und trennen die beiden starken Farben voneinander. Sie sind nicht harmonisch aufeinander abgestimmt, sondern stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander, das von den Betrachtenden intuitiv verstanden wird. Und wie so oft ist die Farbe auch ein Bedeutungsträger. Hier signalisiert sie unmissverständlich: Seht her, hier sind Hochhäuser, und wir sind stolz darauf!
Starkes Engagement könnte als Kompromisslosigkeit missverstanden werden, doch dies trifft bei Galli Rudolf Architekten nicht zu. Bauen ist ein Verhandlungsprozess, und gerade beim Um- und Weiterbauen braucht es viel Fingerspitzengefühl, um das Zusammenspiel einer grossen Schar von Akteuren tatsächlich produktiv nutzen zu können. Umso wichtiger ist deshalb das Wissen und das Bewusstsein um das übergeordnete Ziel und die eigene Rolle: Architekten sind für Architektur zuständig. Sie müssen das architektonische Potenzial eines bestehenden Gebäudes sehen, interpretieren und eine Antwort darauf finden. Galli Rudolf Architekten verbinden in ihrem Handeln und Bauen Neugierde und Erfahrung. Über allem steht ein kritischer Geist, der den Kontext der Aufgabe hinterfragt und zuweilen neu formuliert.