RAUM VERZAHNEN, RÄNDER FREISPIELEN: FEHLMANNMATTE, WINDISCH

Situation Wohnsiedlung Fehlmannmatte

Der folgende Essay ist ein Aufsatz von Sabine von Fischer aus dem Buch «Raumfassungen | Spatial Adaptations; Galli Rudolf Architekten 1998–2014», ParkBooks 2014:

https://www.park-books.com/en/product/galli-rudolf-architekten/793

In der 2014 fertiggestellten Wohn- und Gewerbeüberbauung Fehlmannmatte erscheint das Thema «Rand» in einem ganz anderen Zusammenhang: nicht als Bauen im Stadtrandgebiet, sondern entlang den Rändern archäologischer Ausgrabungen im Zentrum von Windisch. Die Fehlmannmatte blieb lange Zeit unberührt, nachdem hier 1902 archäologische Reste entdeckt wurden, die als «Forum Romanum» jedem Schulkind bekannt sind. Neuere Forschungen weisen die Anlage als Übungsplatz der zwischen Aare und Reuss untergebrachten römischen Legionäre aus, was die riesigen Dimensionen des von den archäologischen Resten aufgespannten Gevierts erklärt [vgl. Abb. Situation Wohnsiedlung Fehlmannmatte].
Die Ausgrabungen des Übungsplatzes sind nicht die einzigen Kulturgüter von nationaler Bedeutung in Windisch: Nördlich der Zürcherstrasse liegt das ehemalige Kloster Königsfelden mit seiner berühmten Kirche, dem heute als Klinik genutzten Hauptbau und einem weitläufigen Park. Die 1962 von Fritz Haller entworfene Höhere Technische Lehranstalt (HTL) im Nordosten bildet das historische Herzstück des kürzlich mit einem prominenten Neubau des Berner Büro B erweiterten Hochschulcampus Brugg–Windisch. Südlich der Fehlmannmatte erinnern die Ruinen des Amphitheaters, welche weiterhin für Freiluftveranstaltungen genutzt werden, an die römische Vergangenheit. Inmitten dieser baulichen Erinnerungsstücke war die Reverenz an das Vergangene eine Verpflichtung — doch wie kann eine heutige Architektur diesen immensen zeitlichen Horizont fassen?
In ihrem ersten Entwurf versuchten mehrere der Wettbewerbsteilnehmer, die Spuren der Römer mit einem riesigen Blockrandbau nachzuzeichnen. Das ursprünglich im Besitz der Gemeinde befindliche Areal liess gegenüber benachbarten Wohnquartieren eine erhöhte Dichte zu, was den Rückgriff auf die Form des Blockrands ebenfalls nahelegte. In der weiteren Arbeit an ihrem siegreichen Projekt erkannten Galli Rudolf Architekten aber, dass eine Rekonstruktion der einstigen Dimensionen mit der Vorgabe eines Bauperimeters innerhalb der archäologischen Reste der römischen Pfählungen bautechnisch nicht machbar war. Ebenfalls hätte eine geschlossene Form sich nicht mit dem angrenzenden Einfamilienhausquartier verzahnt, wie es die offenen Hofräume der Bebauung heute tun.
Die fünf Baukörper sind gemäss strengen Gesetzmässigkeiten auf dem Grundstück platziert. Ähnlich dem Regelwerk für das Färbi-Areal sind sie nicht frei gestaltet, sondern nach bestimmten Regeln geformt: Als ob die Baukörper aus einem langen Riegel geschnittene Stücke wären, deren Längen und Anzahl Geschosse in einer Spielart des Entwurfs — entsprechend ihrer Rolle im städtischen Gefüge — unterschiedlich bestimmt wurden. Im fünfteiligen Ensemble markieren die beiden 80 und 100 Meter langen fünfgeschossigen Baukörper mit 88 Mietwohnungen dessen Zentrumsfunktion und zeichnen die Ränder der römischen Bebauung innenseitig nach. Rückseitig richten sich drei kürzere viergeschossige Bauten mit 52 Eigentumswohnungen mit der Querseite zur kleinteiligen Bebauung im Westen. Sie zeigen, wie unter der Bedingung baulicher Verdichtung attraktiver Wohnraum entstehen und die Identität einer Gemeinde stärken kann. Im Innern durchleuchten die Architekten das Spektrum möglicher Wohnungstypologien, das sich in grossen und kleinen, ein- und zweigeschossigen, gestreckten und verschraubten Raumfolgen entfaltet. Überhohe Räume im Gartengeschoss und unter den Terrassen der Attikawohnungen tragen zur Bildung von intimen und gemeinschaftlichen Bereichen bei [vgl. Wohnsiedlung Fehlmannmatte].
Die Überlagerung von Erinnerung und Gegenwart drückt sich in den Baukörpern auf der Fehlmannmatte in einer statischen Präsenz aus. Der Entwurf hat die Strenge der römischen Architektur aufgenommen, nicht aber ihre Farbigkeit. Es ist das subtil proportionierte Relief aus Wandflächen und Laibungen, welche die grossen hellen Baukörper wie schon lange dagewesen wirken lässt. Eine rohweisse Schlemme legt sich über die Backsteine des grossen Ensembles und lässt sie monolithisch erscheinen. Wie aus einem Stein gemeisselt wirken die Fenstereinfassungen aus Glasfaserbeton über dem hell geschlämmten Backsteinfurnier. Sie zeichnen über den langen Strassenfassaden ein Relief aus Fugen und Laibungen, im Hofraum zusätzlich mit den vorspringenden Loggien aus rohem Beton.
Diese Strategie einer Konturenbildung in verschiedenen Massstäben, wie sie die Architekten bereits bei Gebäudehöhen, Balkonen und Verputz der Überbauung Luegisland in vielfältiger Weise einsetzten, entfaltet in ihrer monochromen Fassung auf der Fehlmannmatte eine bestechende Eleganz. Die an die Römerzeit erinnernden Monolithen sind unverkennbar anders als ihre Nachbarbauten. Über die Setzung der Hofräume aber verzahnen sie sich mit der Nachbarschaft im heterogenen Zentrum von Windisch.
In der Sockelzone mit Gewerbenutzung entlang der Zürcherstrasse unterstreichen sichtbar schwere Fassadenblöcke in rohem Beton die Präsenz in beinahe stoischer Art und Weise. Breite, offene Fugen lassen keine Zweifel, dass die tektonische Referenz dieser Anlage in der Antike liegt. Das eingezogene Erdgeschoss markiert Öffentlichkeit am für die Zentrumsbildung in Windisch prominenten Ort gegenüber der Parkanlage von Königsfelden, der Schulbauten Hallers und entlang der befahrenen Durchgangsstrassen. Die Setzungen der Baukörper fassen die privaten, halböffentlichen und öffentlichen Räume bewusst ambivalent in einer unterschwelligen Urbanität, welche der regionalen Bedeutung von Windisch gerecht wird, ohne aufdringlich zu wirken.
Wie die Peripherie nicht entlang einer Linie verläuft, sondern vielschichtige Räume beinhaltet, sind auch die Typologien der hier diskutierten vier Projekte vielfältig. In den ersten drei besprochenen Wohnsiedlungen sind es die Palimpseste der städtischen Peripherien, im letzten Beispiel der neuen Zentrumsbebauung von Windisch sind es archäologische Reste ehemaliger Siedlungs- und Bebauungsgrenzen, welche Fragen an die Architekten stellen, die sich mit den herkömmlichen Herangehensweisen nur unvollständig beantworten lassen. Die verzahnten und verflochtenen Aussen- und Innenräume ihrer baulichen Antworten, in der Horizontalen und der Vertikalen, sind Grenzgänger zwischen Experiment und Tradition, zwischen Vision und Markt, zwischen Stadt und Land — wobei die Grenzen zwischen diesen Begriffen ebenfalls längst verwischt sind. Die Wohnsiedlungen von Galli Rudolf Architekten fassen Räume mit mehrfachen Zuordnungen und Lesbarkeiten: Sie können zuweilen zugleich innen und aussen, zugleich privat und gemeinsam sein. Sie fächern Möglichkeiten des Wohnens, Arbeitens, Lebens und Handelns auf.

Sabine von Fischer lebt als Autorin in Zürich. Nach praktischer Tätigkeit als Architektin in Zürich und New York war sie Redaktorin für werk, bauen + wohnen. Sie doktorierte und lehrte am Institut für Geschichte und Theorie (gta) der ETH Zürich und hat zahlreiche Texte für Zeitungen, Zeitschriften und wissenschaftliche Publikationen verfasst.