DURCHLÄSSIGE VERDICHTUNG: LUEGISLAND, ZÜRICH–SCHWAMENDINGEN

Situation Wohnsiedlung Luegisland 1

Der folgende Essay ist ein Aufsatz von Sabine von Fischer aus der Publikation «Raumfassungen | Spatial Adaptations; Galli Rudolf Architekten 1998–2014», ParkBooks 2014:

https://www.park-books.com/en/product/galli-rudolf-architekten/793

Mit den Ersatzneubauten für die Bau- und Siedlungsgenossenschaft Vitasana an der Winterthurer- und Luegislandstrasse in Zürichs Norden sahen sich Galli Rudolf Architekten mit den zuweilen prekären Bedingungen des derzeitigen raumplanerischen Credos der «inneren Verdichtung» konfrontiert. 2009 war es die Aufgabe der Architekten, im peripheren Stadtgebiet des Quartiers Schwamendingen, auf das die traditionellen Modelle der locker bebauten Gartenstadt nicht mehr angewandt werden durften, die Idee der Gartenstadt in den Zusammenhang eines verdichteten Stadtteils zu übersetzen.
Die Vorgabe war, zwischen dreigeschossigen Zeilenbauten und sechsgeschossigen Punkthochhäusern den Charakter des 1948 vom damaligen Stadtbaumeister Albert Heinrich Steiner angelegten Bebauungsplans zu erhalten, dies allerdings mit einem minimierten Anteil an Grün- oder Freiflächen. Diese Neuinterpretation führt in gewisser Weise den Begriffswandel der Gartenstadt seit seiner Einführung durch Ebenezer Howard im Jahr 1898 vor: Während Howards Modell ein Städtenetz im Grüngürtel um eine Kernstadt herum vorsah, bedeutete Gartenstadt zur Zeit von Steiners Plan ein Vorstadtquartier mit ausgiebigen Grünflächen. (21) Das seit 1934 in die Stadt Zürich eingemeindete Schwamendingen war eine Peripherie innerhalb der Stadtgrenzen. An der Wichtigkeit der Grünräume hält der aktuelle Bebauungsplan für Luegisland fest: Die Aussenräume sind so gesetzt, dass sie sich zu einem durchfliessenden Netz verbinden [vgl. Abb. Situation Wohnsiedlung Luegisland 1].
Die Vorstadtsiedlung sollte für ein urbanes Publikum attraktiv werden — eine Problemstellung, der die Architekten eher mit einer Taktik als mit einer Strategie begegnen mussten. (22) Gut 20 Jahre nach Marcel Meilis «Brief aus Zürich» von 1988 bedeutet Stadtentwicklung heute nicht mehr die Erschliessung eines Landschaftsraums; vielmehr überlagern sich in der Schwamendinger Siedlung Luegisland Stadt, Vorstadt und Gartenstadt zu einem Palimpsest der Stadtmodelle. Die Gartenstadt als Gegenstück zur Stadt war, wie die Begriffe von Stadtzentrum und Peripherie, von den Entwicklungen überholt, wie Meili beschrieb:
«Das Territorium, in dem wir arbeiten, hat in den vergangenen zwanzig Jahren schleichend seine Natur geändert. Es ist endlos geworden und macht damit jede Vorstellung von einem ‹neuen, besseren Ausserhalb› unmöglich. Die Stadt erschliesst sich nicht mehr das Land, sondern die Peripherie bemächtigt sich dieses Gegensatzes, um ihn aufzuheben.» (23) Schwamendingen ist ein solcher Ort, an dem die Peripherie die Gegensätze aufgehoben hat. Auf diese Situation haben Galli Rudolf Architekten mit einer räumlichen Verzahnung im städtebaulichen wie im architektonischen Massstab reagiert. Ihre Taktik lag in einer Abstufung der Höhen und in der Vernetzung der Aussenräume. Im Massstab der einzelnen Häuser sind die Baukörper mit grossen Balkonen, Oberflächenstrukturen und Durchblicken so artikuliert, dass auf verschiedenen Ebenen eine Reliefbildung die Identität des Ensembles unterstützt. Eine Farbgebung in erdigen Tönen verschiedener Helligkeiten, welche die Bauten in Sockel- und Obergeschoss differenzieren, intensiviert den Dialog zwischen den Teilen und dem Ganzen. In den Schattenwürfen auf dem groben Verputz und den Reliefs der Baukörper zeichnet sich im flachen Morgen- und Abendlicht die Vielzahl der städtebaulichen Körnungen ab.
In den vier realisierten Bauten der Siedlungsergänzung sind drei Wohnungstypen für unterschiedliche Haushaltsgrössen und Lebensformen angelegt [vgl. Wohnsiedlung Luegisland 1]. Diese unterschiedlichen Wohnungscharaktere drücken sich auch an der Fassade aus. Im Kopfbau entlang der Winterthurerstrasse ist das Thema der hybrid buildings am deutlichsten aufgenommen: An der Fassade zur Hauptstrasse sitzt über dem hell geschlämmten Gewerbesockel ein vertikal artikulierter, grob und dunkel verputzter Block, in dem kleinere Wohnungen mit tiefen Raumsequenzen angelegt sind. Winkelförmig doppelgeschossige Balkone und Raumfluchten entlang abgewinkelter Wohnungstrennwände erzeugen in der Vertikalen wie in der Horizontalen eine Dynamik, welche die young urban professionals für das Leben in der Vorstadt anwerben soll. In den zwei längeren Bauten entlang der inneren Siedlungserschliessung gibt es ebenfalls von Fassade zu Fassade durchgehende Wohnungen von mittlerer Grösse und konventioneller Tiefe, die typischerweise für Paarhaushalte ausgelegt sind. Im tiefen Block mit grösseren Familienwohnungen sind die Einheiten in den Quadranten des Grundrisses angelegt. Aus diesem Haus ragen weit auskragende Balkone in den Aussenraum. Im Innern der Wohnungen führt ein Rundgang durch eine kontinuierliche Raumsequenz.
Zwischen diesen drei Wohnungstypen liegen die zurückhaltend erneuerten Turmhäuser, die nun nicht mehr in eine Parklandschaft, sondern in ein Konglomerat erdfarbener Baukörper eingebettet sind. Das alleinige Reagieren auf die Ansprüche des Orts, des städtebaulichen Leitbilds oder der Wünsche der Genossenschaft hätte nicht gereicht, um ein solches Projekt zu entwerfen. Vielmehr beruht die Qualität der Überbauung Luegisland darin, Bauplatz und Programm als Palimpsest zu analysieren und mit einer vielschichtigen Taktik zu reagieren.

(21) Daniel Kurz, Die Disziplinierung der Stadt. Moderner Städtebau in Zürich 1900—1940, Zürich: gta Verlag 2005, S. 118 f., 313 ff.

(22) Michel de Certeau hat die Begriffe von Strategie und Taktik aus dem Kriegsvokabular in Beschreibungen von Alltagshandlungen überführt: Michel de Certeau (wie Anm. 13).

(23) Meili (wie Anm. 1), S. 164.