GEFASSTE LANDSCHAFT: SIHLGARTEN, ZÜRICH-LEIMBACH

Situation Wohnsiedlung Sihlgarten

Der folgende Essay ist ein Aufsatz von Sabine von Fischer aus der Publikation «Raumfassungen | Spatial Adaptations; Galli Rudolf Architekten 1998–2014», ParkBooks 2014:

https://www.park-books.com/en/product/galli-rudolf-architekten/793

Komplexe Konstellationen in Grundriss und Schnitt sind ein Thema, das sich durch die Bauten von Galli Rudolf Architekten zieht. Auch in einem anderen Randgebiet, in Leimbach im Südwesten von Zürich, wurde mit einer prägnanten Figur in einer peripheren Situation Raum gefasst. Zwischen 2003 und 2007, parallel zu den Planungen für Schlieren, entwarfen die Architekten eine Wohnsiedlung für die Baugenossenschaft Hofgarten mit 57 Wohnungen entlang der Sihl. Die L-Figur des Baus ist grossräumig wie die Landschaft von Unterleimbach, einem einstigen Weiler, der 1893 gemeinsam mit Mittelleimbach und dem Engequartier in die Stadt Zürich eingemeindet wurde, aber topografisch von der Stadt abgetrennt bleibt [ vgl. Abb. Situation Wohnsiedlung Sihlgarten ] .
Wie der Gestaltungsplan und die realisierten Bauten auf dem Färbi-Areal stellt auch der horizontale Winkel der Siedlung Sihlgarten einen Bezug zur Entwurfsrecherche von Steven Holl her — als intertwining (Verflechten) und interlocking (Verzahnen). Dies geschieht über die in die Ausläufer der Uetlibergkette, das Flussbett der Sihl und die niedrige Bebauung von Unterleimbach eingebettete Figur der Raumklammer. Die liegende L-Figur fasst einen trotz der Grösse intimen Hofraum, der sich mit der Freifläche des ehemaligen Friedhofs zu einem grösseren Grünraum erweitert.
Die umlaufende Fassadenverkleidung der vertikal angeordneten Travertinsteine mit ihren feinen Rissen — ähnlich versteinerten Baumrinden — suggeriert eine Gleichzeitigkeit von Natur und Kultur, Feinem und Grossmassstäblichem und thematisiert so die Kontraste des Ortes [ vgl. Wohnsiedlung Sihlgarten ]  . Die Frage der Grenzen stellt sich in der Siedlung Sihlgarten vehement: Zwar hatte die architektonische Moderne das räumliche Kontinuum gefordert, aber Innen und Aussen haben sich unter den klimatischen, sozialen und politischen Bedingungen des 20. Jahrhunderts immer wieder neu ausgeprägt. Die geschlossene äussere Fassade aus rhythmisierten Bändern schirmt die Wohnungen vom Verkehr ab, während die schwebenden Brüstungen als umlaufende Balkonschicht innenseitig den offenen Hofraum bespielen.
Wie die Nachbarschaften sind auch die beiden Seiten der L-Figur komplementär angelegt: Wie in Hitchcocks Film Rear Window entfaltet sich im Inneren der Randbebauung ein vielfältiges Leben, das sich allen offenbart, die durch den offenen und öffentlichen Durchgang in der Ecke des Winkels entlang der Sihl in den Hof eintreten. Die Situierung des Haupteingangs in der Ecke sorgt auch dafür, dass die Dynamik der Figur in den gesamten Hofraum fliesst.
Die städtische Peripherie von Leimbach hat auf das Haus eingewirkt, die Elemente der komplementären Situation sind im Innern zu einem Repertoire von Grundrissen verschiedener Grössen und Figuren verknüpft: Ein- und zweigeschossige Wohnungen verbinden die privaten Räume zum Hof, zur Sihl und zur Strasse. Zwischen Hofraum und Sihl liegen die grösseren, von Fassade zu Fassade durchgehenden Familienwohnungen. Der Jurybericht von 2004 wertete die offenen Wohnküchen, die teilweise grösser als die Wohnzimmer sind, als Neuentdeckung. Gegenüber der befahrenen Ausfallstrasse war aber aufgrund der damaligen Lärmschutzvorschriften kein Wohnen von Fassade zu Fassade möglich. (20) Mit der durchdachten Grundrisstypologie reagierten die Architekten auf die durch den Lärmschutz diktierte Isolierung sowie auf eine Programmänderung der Genossenschaft, die mehr kleine Wohnungen brauchte: Entlang der Strasse entwarfen sie mit Laubengängen erschlossene Klein- und Maisonettewohnungen.
Wie beim Färbi-Areal wurde der gemeinschaftlichen Nutzung des Erdgeschosses auch im Sihlgarten grossen Wert beigemessen. Die Atelierwohnungen sind beliebt: Ein Raum im Erdgeschoss mit Verbindung zur darübergelegenen Kleinwohnung bietet Platz für verschiedene Bedürfnisse heutiger Lebens- und Arbeitsformen. Die Bewohnerinnen und Bewohner haben den Hof längst in Beschlag genommen: Tagsüber beleben ihn die Mädchen und Jungen des Kindergartens, abends und an den Wochenenden die Bewohner der näheren und weiteren Umgebung, für eine Pause auf dem Weg zum Waschsalon oder zum Gemeinschaftsraum. Das Zusammenspiel mit der Umgebung unterstützt auch der revitalisierte kleine Quartierbach, der quer durch den Hof fliesst. Die Raumklammer der Siedlung Sihlgarten fasst weit mehr als die verschiedenen Wohnungstypen; es sind auch das Flussbett und dessen Vegetation, die Grünräume am Fuss des Uetlibergs und die Fussgängerebene des Quartiers, die hier aktiviert werden.
Die Wohnlichkeit der Anlage beruht auf der choreografierten Massstäblichkeit des Entwurfs: Gegenüber den Lagerhallen zwischen der Sihl und der nahen Autobahn sind die Fassadenabwicklungen lang, gegenüber der kleinmassstäblichen Bebauung am Hang entsteht ein geschützter Raum. In jeder Facette des Zwiegesprächs mit der Umgebung oszilliert die grosse Raumklammer zwischen Annäherung und Aufforderung — was sich angesichts der späteren Entwicklung des Gebiets Manegg als weitsichtige Geste erwies. Das Sihltal ist eines der Territorien, wo sich Landschaft und Industrie seit Generationen überlagern und eine Intervention ohne Ambivalenz wohl zum Scheitern verurteilt wäre.

(20) Im Sommer 2005 zeigte das Architekturforum Zürich die Ausstellung Lärm. Das Ohr wohnt mit, die sich mit dem Einfluss und den Konsequenzen der Lärmschutz­vorschriften auf Grundriss-, Fassaden- und Stadtraumgestaltung beschäftigte. Yvonne Rudolf war zu dieser Zeit Mitglied des Vorstands.